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"Der Drogenkrieg dient der Durchsetzung neoliberaler Politik"

Freitag 14. September 2012, von Comité Cerezo México

Antonio und Alejandro Cerezo sind Mitglieder der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Comité Cerezo. Die beiden Brüder und ihre Organisation erhielten als Auszeichnung für ihre Arbeit am 1. September den Aachener Friedenspreis. Aktuell befinden sie sich auf einer Rundreise in Deutschland, um über ihre Arbeit und die Lage der Menschenrechte zu informieren. Im Gespräch mit amerika21.de erklären sie, wie aus ihrer Sicht der so genannte Krieg gegen den Drogenhandel, den der mexikanische Präsident Felipe Calderón 2006 erklärte, der Durchsetzung von Unternehmensinteressen dient und gegen den Kampf der Bevölkerung für fundamentale Rechte gerichtet ist.

Sie haben den Aachener Friedenspreis erhalten. Wie ist es um den Frieden in Mexiko bestellt?

Antonio Cerezo: Der außerhalb Mexikos bekannteste Aspekt ist der angebliche Krieg, der in Mexiko gegen den Drogenhandel geführt wird. Die Wahrnehmung vieler Menschen und Organisationen ist, dass in Mexiko der Frieden aufgehört hat, als 2006 der angebliche Krieg gegen den Drogenhandel erklärt wurde. Wir hingegen betonen in dieser Debatte, dass dies nur ein Aspekt der Abwesenheit des Friedens in Mexiko ist.

Es gibt einen anderen Aspekt, der mindestens genauso gewalttätig ist und der verschwiegen wird: Der Aspekt der großen Ungleichheit der Verteilung des Reichtums in unserem Land. Mexiko ist nach Brasilien das lateinamerikanische Land mit der größten Ungleichheit. Darüber hinaus ist es ein Land mit 113 Millionen Einwohnern, von denen nach offiziellen Statistiken des Nationalen Rates zur Evaluation der Politik Sozialer Entwicklung (CONEVAL) fast 90 Millionen Mexikaner entweder in ökonomischer Armut oder mit "sozialen Mängeln" leben, d.h. sie haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Bildung oder zu Wohnraum.

Für uns ist die Tatsache, dass in unserem Land noch immer Kinder an heilbaren Krankheiten sterben, dass alte Menschen verlassen in ihren Wohnungen leben, dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben, all diese Misere bedeutet für uns, dass es keinen Frieden gibt. Man kann nicht von Frieden reden, wenn es diese Misere, Ungleichheit und Ungerechtigkeit gibt. Es sind also zwei Aspekte der Abwesenheit des Friedens in Mexiko.

Allerdings hat der mexikanische Staat versucht, diesen Mangel an Frieden durch den angeblichen Krieg zu verstecken, der die systematische Verletzung der Menschenrechte der Bevölkerung provoziert und den die Regierung heute selbst nicht mehr Krieg nennt. Zu Beginn erklärte die Regierung einen Krieg, danach nannte sie ihn Kampf gegen die Kriminalität und nun spricht sie nur noch von einem Kampf für den Rechtsstaat. Der Frieden existiert in Mexiko seit vielen Jahre nicht mehr, weder vor dem Aufstand der Zapatisten im Jahr 1994, noch danach.

Hier in Deutschland liest man auch viel über den "Krieg gegen den Drogenhandel" in Mexiko. Inwieweit könnte man sagen, dass dieser Krieg in erster Linie gegen politische und soziale Organisationen gerichtet ist, und nicht gegen die Drogenkartelle?

Alejandro Cerezo: Wir sagen immer, dass der Krieg gegen den Drogenhandel ein Vorwand gewesen ist, um einen internen Feind zu schaffen, der es dem mexikanischen Staat erlaubt, die Militarisierung des sozialen Lebens und des Landes voranzutreiben. Dadurch, dass das Gespenst des Kommunismus nicht mehr existiert und auch der Terrorismus in unserem Land diese Funktion nicht mehr einnimmt, hat die Regierung sich einen imaginären Feind geschaffen, der es ihr erlaubt, seine repressiven Kräfte zu mobilisieren. Was der große Mythos des Kriegs gegen den Drogenhandel also versteckt, ist eine Politik der politisch-sozialen Kontrolle von Territorien und der Bevölkerung. Mit welchem Ziel? Mit dem Ziel, zu garantieren, dass die wirtschaftlichen Mega-Projekte, seien sie durch nationales oder transnationales Kapital finanziert, durchgeführt werden können. Was gesucht wird, sind Bedingungen, in denen die Gemeinden, die Indígenas und Bauern oder auch Studenten, nicht gegen die Anwendung neoliberaler Maßnahmen protestieren. Deshalb sagen wir, dass der Krieg gegen den Drogenhandel in Wirklichkeit ein Krieg gegen das Volk ist.

Es ist kein Zufall, dass allein in den vergangenen fünf Monaten bereits zehn Menschenrechtsverteidiger verschwunden sind, dass es zwölf extralegale Hinrichtungen und 41 "kleinere" Aggressionen wie Morddrohungen oder Hausdurchsuchungen gegeben hat und 80 Festnahmen aus politischen Gründen. Wir reden also von fast einer Aggression pro Tag. Es ist kein Zufall, dass sich just in dem Moment, in dem die Regierung das Gefühl hat, tun zu können, was sie will, diese Strategie gegen die sozialen Bewegungen zuspitzt.

Sie sind auch selbst Opfer dieser Verfolgung geworden. Kann Ihnen ein Preis wie der Aachener Friedenspreis einen gewissen Schutz bei Ihrer Arbeit bieten?

Antonio Cerezo: Er kann uns helfen, weil er unsere Arbeit legitimiert. Die Legitimität unserer Arbeit bedeutet einen höheren politischen Preis für den mexikanischen Staat für den Fall, dass wir angegriffen werden. Wir wissen auch, dass uns kein Preis allein vor Angriffen des Staates schützen wird. Aber er hilft dabei, uns sichtbarer zu machen und den mexikanischen Staat dazu zu bringen, zwei Mal zu überlegen, bevor er uns ernsthaft angreift. Ich sage "ernsthaft", weil die Morddrohungen vermutlich weitergehen, wir aber im Rahmen unserer Möglichkeiten versuchen zu verhindern, dass Schlimmeres passiert, also zum Beispiel das Verschwindenlassen oder eine extralegale Hinrichtung. Wir glauben, dass der Preis dazu beitragen wird, sichtbarer zu werden und wir hoffen, dass er zusammen mit unserer Arbeit mit dafür sorgt, dass wir geschützt werden und unsere Arbeit zur Verteidigung der Menschenrechte fortführen können.

Alejandro Cerezo: Wir hoffen, dass wir nach unserer Rückkehr nach Mexiko keine Repression wegen dieser Rundreise erfahren werden, weil wir in Deutschland und Europa darüber informiert haben, wie in Mexiko Menschenrechtsverteidiger verschwinden, extralegal hingerichtet werden, andere Aggressionen erleiden oder inhaftiert werden. Wir werden den mexikanischen Staat für jedwede Art von Drohungen oder Nötigungen im Zusammenhang mit der Rundreise verantwortlich machen, sei es gegen uns, gegen andere Mitglieder des Comité Cerezo oder Angehörige.

Wenn die deutsche Regierung über die Lage der Menschenrechte in Mexiko spricht, dann benennt sie relativ klar die Missstände. Wenn es aber darum geht, diese Zustände zu verändern, dann sagt sie, die mexikanische Regierung sei auf dem richtigen Weg, weshalb man sie unterstützen müsse. Wie bewerten Sie die deutsche Politik gegenüber Mexiko?

Alejandro Cerezo: Es scheint mir wichtig zu betonen, dass sich die mexikanische Regierung Erfolge zu eigen macht, für die sie selbst nicht verantwortlich ist. Zum Beispiel wurde das kürzlich verabschiedete Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten von Vertretern der Zivilgesellschaft mit Unterstützung von Beratern des Senats ausgearbeitet. Sie waren es, die geschickt taktiert haben und die Botschaften der Europäischen Union, von Kanada und Norwegen eingebunden haben. Es war also die Zivilgesellschaft, welche die gesamte Arbeit gemacht hat. Und dann kommt die Regierung und sagt: "Wir sind ein demokratischer Staat, wir sind für die Einhaltung der Menschenrechte; seht her, was für ein gutes Gesetz wir gemacht haben!"

Dasselbe ist mit dem Gesetz der Opfer (Ley de Victimas) passiert. Auch hier handelt es sich um ein Gesetz, das von der Zivilgesellschaft ausgearbeitet und der Legislative präsentiert und dort abgestimmt wurde. Leider hat die Exekutive bei diesem Gesetz ein Veto benutzt und es illegaler- und illegitimerweise abgelehnt. [1]

Viele der Triumpfe der Regierung sind in Wirklichkeit Erfolge der Zivilgesellschaft. Wenn sich die deutsche Regierung um die Verbesserung der Menschenrechte in Mexiko sorgt, dann sollte sie die Zivilgesellschaft unterstützen. Und zwar bei deren Forderungen und in deren Dialog mit der mexikanischen Regierung, indem sie die kritischen Punkte thematisiert. Zum Beispiel existiert in Mexiko kein bundesweites Gesetz gegen das Verschwindenlassen. Wie gut wäre es, wenn deutsche Parlamentarier und die Regierung diesen Punkt in bilateralen Gesprächen thematisieren würden. Seit 1999 haben keine Vertreter der Arbeitsgruppe der UNO zu extralegalen Hinrichtungen mehr Mexiko besucht. Wie gut wäre es, wenn sie dies wieder anstoßen würden. Was wäre noch wichtig? Es gibt keine Verfolgung der Täter von Angriffen auf Menschenrechtsverteidiger. Nach Angaben der UNO bleiben 96 Prozent der Fälle straffrei. Wie gut wäre eine Unterstützung bei der Aufklärung dieser Verbrechen. Wir glauben, dass die Abkommen, die Deutschland mit Mexiko schließt, nicht auf diese Punkte gerichtet sind.

Derzeit verhandeln Deutschland und Mexiko auch ein Abkommen zur Kooperation im Sicherheitsbereich. Was denken Sie darüber?

Antonio Cerezo: Die Menschenrechtsorganisationen in Mexiko sehen das Abkommen [2] mit einer gewissen Sorge. Die mexikanische Regierung hat gezeigt, dass ihre Bundespolizei (Policía Federal) und die Mehrheit der regionalen Polizeien die Menschenrechte verletzen. Oft benutzt die mexikanische Regierung die Ausbildung aus solchen Abkommen mit anderen Regierungen, um das eigene Vorgehen zu legitimieren. Sie sagen dann: "Wir wurden von der deutschen Polizei ausgebildet, welche die Menschenrechte respektiert. Also respektiere ich sie auch." Aber es ist nichts Mechanisches. Es kann zwar sein, dass die deutsche Regierung die gute Absicht hat, die mexikanische Polizei auszubilden. Aber das führt nicht dazu, dass die mexikanische Bundespolizei aufhört, die Menschenrechte zu verletzen. Wir haben zum Beispiel die aktuellsten Berichte über die Folter und darin steht, dass diese eine alltägliche Praxis der Polizei in Mexiko ist. Oder heute stand in der Zeitung, dass die staatliche Kommission für Menschenrechte (CNDH) Menschenrechtsverletzungen durch die Bundespolizei gegenüber Fluggästen angeprangert hat. Wir hoffen also, dass der mexikanische Staat die Ausbildung nicht nutzen wird, um einer Polizei Legitimität zu verschaffen, die die Menschenrechte systematisch verletzt. Wie schon Alejandro gesagt hat: Wir denken, dass die Unterstützung der deutschen Regierung wesentlich mehr auf zivilgesellschaftliche Organisationen ausgerichtet sein sollte und nicht auf die staatlichen Sicherheitsinstitutionen.

Am 1. Juli hat Enrique Peña Nieto die Präsidentschaftswahlen gewonnen und die PRI ist nach einer zwölfjährigen Pause wieder an der Macht. Welche Veränderungen erwartet ihr durch den neuen Präsidenten?

Alejandro Cerezo: Zunächst erwarten wir eine Vertiefung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die eine große Verletzung der Menschenrechte bedeutet. Wir erwarten dies, weil die erwähnte Kontrolle über Territorien mit dem Ziel, später produktive Projekte zu etablieren, sich weiter zuspitzen wird. Sie wird häufiger werden und wer sich ihr entgegenstellt, muss damit rechnen, zu verschwinden oder ins Gefängnis zu wandern. In diesem Sinne glauben wir nicht, dass sich die Situation der Menschenrechte unter der neuen Regierung verbessern wird.

Antonio Cerezo: Peña Nieto hat sogar schon Reformen angekündigt, die er voranbringen möchte. Darunter ist zum Beispiel eine Reform der Sozialversicherung, eine Arbeitsrechtsreform und eine Energiereform. Diese Reformen werden voraussichtlich vor allem die Teile der Gesellschaft treffen, die noch vom Sozialversicherungssystem profitieren oder von den Arbeitsrechten, die in der Praxis in Mexiko nicht mehr existieren. Und er wird die Privatisierung des staatlichen Erdölunternehmens PEMEX abschließen, das schon jetzt Energie von anderen Privatunternehmen kauft. Die Reformen werden deutlich den prekären Wohlstand mancher Teile der mexikanischen Gesellschaft treffen. Im Sicherheitsbereich hat der zuständige Vertreter des neuen Kabinetts angekündigt, dass sie die Strategie des ehemaligen Präsidenten Felipe Calderón weiterführen werden, diese aber dort verbessern werden, wo es möglich ist. Wenn wir uns also diese Ankündigungen ansehen, dann gehen wir davon aus, dass die Repressionspolitik gegen die sozialen Bewegungen und die Menschenrechtsverteidiger weitergehen wird und möglicherweise zunimmt.

Welche Akteure könnten in dieser schwierigen Situation wichtig werden, um einen Wandel in Mexiko zu erreichen?

Alejandro Cerezo: Nun, gerade vor ein paar Tagen hat der ehemalige Kandidat der Linken, Andrés Manuel López Obrador, zur Gründung einer neuen Bewegung oder einer neuen Partei jenseits der PRD aufgerufen. [3] Es kann sein, dass dies zur Organisierung von Menschen führt, die die bestehenden Parteien satt haben, darunter auch die linken, und dass diese Bewegung durch ihre Größe ein politischer Faktor auf Bundesebene wird und Druck gegen die Vertiefung der neoliberalen Politik ausübt.

Es gibt mit der Bewegung "Yo soy 132" [4] auch eine wesentlich kleinere und jüngere Bewegung mit etwas anderen Charakteristiken, die auf die eine oder andere Art durch ihre Demonstrationen viele Menschen eingeladen hat, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.

Jenseits dieser beiden Bewegungen, die einen bundesweiten und massenhaften Charakter haben, gibt es in Mexiko eher regionale und lokale Bewegungen, die es bisher nicht geschafft haben, ihren Einfluss über ihre geografischen und politischen Grenzen hinaus auszuweiten. Die Bedingungen in unserem Land erlauben also, dass viele Menschen ein politisches Erwachen mitmachen, aber die Geschichte von dem, was kommt, muss noch geschrieben werden und es liegt noch ein langer Weg vor uns.


Online ansehen : amerika21.de


[1Siehe amerika21.de, 25.07.2012: Regierung behindert Entschädigung für Opfer des Drogenkrieges, http://amerika21.de/meldung/2012/07/53468/ley-de-victimas

[2Siehe amerika21.de, 02.05.2011: Deutschland hilft Mexiko im "Krieg gegen Drogen", http://amerika21.de/nachrichten/2011/05/29091/wulff-mexiko; amerika21.de, 05.05.2011: Mexiko: Deutsche Polizeihilfe könnte organisiertes Verbrechen fördern, http://amerika21.de/meldung/2011/05/29611/polizeihilfe-deutschland-mexik... amerika21.de, 21.07.2011: Brüder im Geiste, http://amerika21.de/analyse/38130/brueder-im-geiste; amerika21.de, 07.01.2012: Bundesregierung stützt Militarisierung Mexikos, http://amerika21.de/nachrichten/2012/01/43267/mexiko-bundesregierung

[3Siehe amerika21.de, 11.09.2012: López Obrador verlässt nach 23 Jahren die PRD http://amerika21.de/nachrichten/2012/09/58637/amlo-prd-bruch

[4Die Bewegung "Yo soy 132", auch bekannt durch das Twitter-Hashtag #YoSoy132, entwickelte sich während des Wahlkampfes im Frühjahr 2012 und artikulierte sich vor allem als Protestbewegung gegen Enrique Peña Nieto. Siehe auch amerika21.de, 30.06.2012: Eine Bewegung in den Kinderschuhen, http://amerika21.de/analyse/53190/yosoy132

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